„Du bist heute ganz schön aggressiv.“ Diesen Satz haben wir alle schon einmal gehört oder ausgesprochen. Aggressionen und Gewalt sind menschlich. Doch gerade in der Pflege bedeuten sie einen besonders großen negativen Effekt auf den Menschen, der sie erfährt. Alles wissenswerte über Gewalt, gibt es hier im Beitrag.
Was ist Gewalt?
Wir alle sind überzeugt, dass wir Gewalt erkennen, wenn wir sie sehen. Doch: Ist dem wirklich so? Um das herauszufinden, muss erst einmal klargestellt sein, was Gewalt eigentlich ist. Denn eins steht fest. Gewalt ist vielfältig. Körperliche Gewalt mit offensichtlichen Folgen wie einem blauen Auge wird zuverlässig als solche erkennt. Bei psychischer Gewalt ist das komplexer. Denn die Auswirkungen können nur durch das Opfer selbst bestimmt werden. Im Deeskalationstraining PAIR wird Gewalt als „jegliche Form verbalen, nonverbalen oder körperlichen Verhaltens, welches für den Patienten selbst, andere Personen oder deren Eigentum eine Bedrohung darstellen oder körperliches Verhalten, wodurch der Patient selbst, andere Personen oder deren Eigentum zu Schaden gekommen sind“ definiert. Die breite Definition zeigt, dass Gewalt viele Formen annehmen kann.
Warum werden wir aggressiv?
Es existiert eine Vielzahl von Erklärungen für aggressives Verhalten. Die Psychoanalyse hat genau so, wie die Ethologie ein Erklärungsmodell hervorgebracht. Das ethologische – also verhaltensbiologische – besagt, dass Aggression eine notwendige Verhaltensmöglichkeit sei, die nur bei fehlenden Möglichkeiten des Auslebens problematisch ist. Aggression und Gewalt sind demnach notwendig, um beispielsweise die Familie zu verteidigen oder die Fortpflanzung zu sichern. Modelle aus der Psychoanalyse hingegen sehen Aggression als einen angeborenen, natürlichen Trieb des Menschen. In der „ungezügelten“ Form der Aggression käme es nach diesen Modellen zur Gewalt. So werde das Zusammenleben problematisch. Eine andere Erklärung liefert das Frustrations-Aggressions-Modell. Die Forschergruppe um Dollard sieht Aggression immer als eine Folge von Frustration. Eine niedrigere Frustrationstoleranz bedeutet demnach eine höhere Gefährdung für Gewaltakte. Das lerntheoretische Modell geht davon aus, dass Gewalt erlernt wird. Insbesondere trete dies auf, wenn Gewalt im Umfeld erlebt wird oder wurde. Je erfolgreicher aggressives Verhalten ist, desto stärker werde das Erlernen von Aggression begünstigt. Das bedeutet eine Verpflichtung zur Gewaltprävention für alle Einrichtungen. Pflegedienste, in denen Gewalt öfter vorkommt, können demnach ein Problem in der Unternehmenskultur haben. Wichtig zu bemerken ist in dem Kontext, dass aggressives Verhalten eine Absicht verfolgt. Es besitzt also einen Sinn für den Menschen, der es zeigt. Beispielsweise werden wir aggressiv, weil wir sauer sind und unseren Unmut kundtun wollen. Eine weitere Möglichkeit ist, dass wir jemanden eins auswuschen wollen. Diese beiden Arten der Aggression werden Unmuts-, beziehungsweise Vergeltungsaggression genannt. Angst führt zu Abwehraggression. Wenn wir etwas erreichen wollen, greifen wir gelegentlich zu Erlangungsaggressionen. Es gibt auch die Lust an der Aggression, sie wird spontane Aggression genannt.
In welchen Formen tritt Gewalt auf?
Die offensichtlichste Form von Gewalt ist die körperliche. Sie zeigt sich vielfältig. Beispielhaft durch: ● grobes Anfassen – schlagen, kratzen, schütteln ● (absichtlich) unbequem hinsetzen oder hinlegen ● unerlaubt oder häufig freiheitsentziehende Maßnahmen anwenden ● mit zu heißem oder kaltem Wasser waschen ● Nahrungsverabreichung zu schnell durchführen und die Patientin dadurch „vollstopfen“ ● Nahrungsaufnahme erzwingen ● Hilfsmittel wie Brille, Prothese oder Klingel wegnehmen ● und vieles mehr
Psychische Gewalt ist ebenfalls ein großer Bestandteil von Gewalt an Pflegebedürftigen. Zumeist steckt eine falsche Kommunikation zugrunde. ● unangemessene Kommunikation: anschreien, schimpfen, rügen ● Entscheidungen über Tagesablauf, Beschäftigung oder Kontakte ohne die Pflegebedürftigen treffen ● Bedürfnisse bagatellisieren (besonders häufig Aussagen wie: „Stellen Sie sich nicht so an!“) ● Zimmer betreten ohne vorheriges Anklopfen ● Stören der Nachtruhe ● Kontakte erzwingen oder verweigern ● Blickkontakt vermeiden ● und vieles mehr
Ebenfalls oft thematisiert im Kontext der Pflege wird die Vernachlässigung als Form der Gewalt. ● mangelhafte Versorgung (oft bei der Wundversorgung) ● unzureichende Hilfe leisten ● emotionale Bedürfnisse übergehen ● auf Hilfe warten lassen ● (schmutzige) Kleidung nicht wechseln ● Beaufsichtigung (beispielsweise während des Duschens) vernachlässigen ● Ignoranz gegenüber Gefahrenquellen ● und vieles mehr
Weitaus weniger häufig, aber umso erstaunlicher erscheint die finanzielle Ausnutzung von Klientinnen. ● Pflegebedürftige zu Geschenken überreden oder nötigen ● Wertgegenstände oder Bargeld entwenden ● und vieles mehr
Intime Übergriffe stellen die schockierendste Form von Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen dar. Sie zeigt sich ebenfalls in verschiedenen Formen. ● Ungefragt Briefe für die pflegebedürftigen Personen öffnen ● Körperpflege bei offener Tür durchführen ● Intimsphäre verletzen und Schamgefühle hervorrufen ● sexuelle Andeutungen ● intimen Kontakt verlangen oder erzwingen
Gewalt vorbeugen
Die Pflegeberufe erfordern oft viel emotionalen Einsatz. Neben Traurigkeit sind auch Wut und Aggressionen häufige Begleiter. Die Beherrschung zu bewahren gelingt nicht immer. Um Gewalt in der Pflege vorzubeugen, muss der eigene Umgang mit Aggression reflektiert werden. Das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) rät dazu, Wut offen bei den Vorgesetzten anzusprechen. Insbesondere die körperliche Entlastung kann dabei helfen, Wut besser beherrschen zu können. Die Einrichtungen sind dafür verantwortlich, für Entlastung zu sorgen. Ebenso können Fortbildungen zum Umgang mit Stress und herausforderndem Verhalten hilfreich sein. Liegen Konflikte im Team vor, die die Arbeit erschweren, ist dies ebenso ein Anliegen, dass besprochen werden sollte, wie hoher Stress durch Arbeitszeiten oder bestimmte Prozesse. Vorgesetzte finden Lösungen für solche Situationen. Wenn Pflegende spüren, dass sie an Grenzen stoßen, sollten sie diese klar benennen und einfordern, dass sie geachtet werden. Dazu können auch Maßnahmen zur Gesundheits-Förderung beitragen. Das zentralste Element sind die Pflegenden selbst. Es ist wichtig, sich menschliche Gefühle wie Wut zuzugestehen. Sie sind natürliche Reaktionen auf eine fordernde Situation.
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